Univ.-Prof. Dr. Stefanie Lemke, Institut für Entwicklungsforschung, BOKU University

Univ.-Prof. Dr. Stefanie Lemke, Institut für Entwicklungsforschung, BOKU University
Gruppendiskussion mit Frauen, Projekt AMUTI, Arua, Uganda, 2023 © Palm Corp, Uganda

Mit welchen drei Worten würden Sie sich beschreiben?

Schwierig, das in drei Worte zu fassen – hier ein Versuch:

Engagiert – Flexibel – Teamorientiert

Wie gestaltet sich Ihr beruflicher Werdegang? Welches waren und sind wichtige Stationen in Ihrem Leben?

Mein beruflicher Werdegang war sehr vielseitig und interessant, oft nicht planbar, zum Teil sehr herausfordernd. Ohne den Rückhalt von Familie und Freunden wäre dieser Weg nicht möglich gewesen.

 

Das interdisziplinäre Studium der Oecotrophologie an der Technischen Universität (TU) München-Weihenstephan hat mir eine ganzheitliche Ausbildung ermöglicht, mit Grundlagen und Vertiefungen sowohl in den Natur- als auch Sozialwissenschaften. Das war eine wichtige und gute Basis für die sehr unterschiedlichen Bereiche, in denen ich tätig war.

 

Nach dem Studium ging ich 1991 zunächst nach Dresden, wo ich kurz nach der Wende die Teamleitung im Projekt „Mobile Beratung und Information über Ernährung“ im Bundesland Sachsen übernahm. Das Projekt wurde vom Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (AID) e.V. (später aid Infodienst) durchgeführt, im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Es war eine spannende Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, die aber für viele Menschen Unsicherheit mit sich brachte.

Ab 1992 übernahm ich bis 1997 die Leitung der Ernährungsberatung bei der AOK Bayern für die Landkreise Bad Tölz-Wolfratshausen und Miesbach-Tegernsee. Die Arbeit mit Menschen in unterschiedlichen Kontexten war sehr vielseitig und erfüllend. Folgende Themen waren damals u.a. relevant und haben an Bedeutung noch zugenommen: gesunde Ernährung im Kindergarten und in der Schule, vollwertiges ausgewogenes Essen und persönliches Wohlbefinden sowie Gesundheit angesichts einer sich ändernden Lebensweise, und wie das mit den Herausforderungen in Beruf und Alltag unter einen Hut zu bekommen ist. Die Zahlen zu steigendem Übergewicht, aber auch die zunehmende Ernährungsarmut sprechen für sich.

 

Nach der Zeit bei der AOK Bayern ging ich im Rahmen meiner Promotion für drei Jahre als Gastforscherin nach Südafrika, an das Nutrition Department der North West University, wo ich zu Strategien der Ernährungssicherung schwarzafrikanischer Familien forschte. Die Menschen hatten nach dem Ende der Apartheid zwar Bewegungsfreiheit erlangt, aber Armut und Hunger nahmen durch den plötzlichen politischen und gesellschaftlichen Umbruch in großen Teilen der Bevölkerung sogar noch zu. Ich arbeitete eng mit südafrikanischen Sozialanthropologen zusammen, was mir Einblicke in die komplexen Familiensysteme und sozialen Netzwerke ermöglichte, die bis heute durch die diskriminierenden Gesetze der Apartheid geprägt sind. In Deutschland betreute mich mein Doktorvater, der Agrarsoziologe Prof. Dr. Joachim Ziche an der TU München-Weihenstephan.

Projekt AMUTI, Arua, Uganda, 2023 © Stefanie Lemke

Nach Abschluss der Promotion 2001 war ich zunächst freiberuflich für unterschiedliche Organisationen tätig, u.a. InWent-Capacity Building International, Feldafing, aid Infodienst e.V. Bonn, AOK Bayern, Bad Tölz und für die Bayrische Landesanstalt für Ernährung (LfE, später Bayrische Landesanstalt für Landwirtschaft, LfL), München.

 

Die Möglichkeit, in der Wissenschaft zu bleiben, eröffnete sich mit einer Ausschreibung zum Thema Ernährungssicherung im internationalen Kontext an der Justus-Liebig Universität Gießen 2003, am Zentrum für Internationale Entwicklungs- und Umweltforschung (ZEU) bei Prof. Dr. Ingrid-Ute Leonhäuser. Aufbauend auf den Erfahrungen meiner Doktorarbeit entwickelte ich mein eigenes Forschungsprojekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2004 bis 2008 gefördert wurde („Eigene Stelle“). Während dieser Zeit war ich als Gastforscherin wieder in Südafrika, am Africa Unit for Transdisciplinary Health Research (AUTHeR), North West University.

Im Anschluss folgte 2008 die Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hohenheim, am Department Gender und Ernährung, Institut für Sozialwissenschaften des Agrarbereichs, bei Prof. Dr. Anne Bellows. Hier konnte ich 2010 eine volle Stelle für mein Habilitationsprojekt einwerben, im Margarete-von-Wrangell Habilitationsprogramm, Ministerium für Wissenschaft, Forschung & Kunst, Baden-Württemberg & Europäischer Sozialfond. Von 2013 bis 2015 übernahm ich außerdem die Vertretungsprofessur am Department Gender und Ernährung.

 

Nach Abschluss der Habilitation 2015 bekam ich das Angebot, als Senior Research Fellow an die Coventry University nach England zu gehen, an das Centre for Agroecology, Water and Resilience, wo ich bis 2021 tätig war, von 2019 bis 2021 als Associate Professor. Diese Zeit war sehr lehrreich und hat mir wiederum neue Forschungsschwerpunkte eröffnet, u.a. das Projekt „Rechte von Frauen auf Gemeindeland angesichts der Klimakrise“, das ich bis heute gemeinsam mit meiner Kollegin Prof. Dr. Priscilla Claeys und Organisationen der Zivilgesellschaft in Ost- und Westafrika durchführe.

 

2021 folgte dann die Berufung auf die Professur Entwicklungsforschung an der Universität für Bodenkultur Wien. Nach einem sehr vielfältigen und spannenden Weg kann ich heute sagen, dass ich „angekommen“ bin.

Wussten Sie schon immer, dass Sie das machen wollten, was Sie heute machen?

Wie aus meinem beruflichen Werdegang deutlich wird: nein. Mit Beginn meiner Forschung im Rahmen der Doktorarbeit in Südafrika habe ich nach sechs Jahren in der Ernährungs- und Verbraucherberatung eine ganz neue Richtung eingeschlagen und meine feste Anstellung an der AOK Bad Tölz-Wolfratshausen/Miesbach/Tegernsee aufgegeben. Das hatte persönliche Gründe: mein damaliger Partner und heutiger Mann ging als Geologe 1996 für seine Promotion nach Südafrika. Das war der Anstoß für mich, mich beruflich weiterzuentwickeln, was ich in jedem Fall vorhatte. Dass es ein kompletter Umbruch werden würde, ahnte ich damals noch nicht. Die Arbeit als Ernährungsberaterin war eine wichtige Grundlage für meine Forschung in Südafrika. Dabei ging es in erster Linie darum, Vertrauen aufzubauen, um tiefere Einblicke in die spezifischen sozialen Verhältnisse der Menschen zu erhalten und die täglichen Herausforderungen, denen sie sich gegenübersehen – vor allem Frauen, die in der Regel für die Ernährung und den Lebensunterhalt ihrer Kinder und Familien sorgen. 

 

Danach wusste ich lange nicht, ob ich in der Wissenschaft bleiben würde. Das geht ja vielen so und liegt an den Befristungen. Ich habe mich seit der Zeit der Doktorarbeit überwiegend selbst über Stipendien und Forschungsstellen finanziert. Manchmal habe ich überlegt, in die Ernährungsberatung zurückzugehen. Das war immer meine Alternative, wenn es in der Wissenschaft nicht weitergegangen wäre.

Was mögen/schätzen Sie in Ihrem Beruf am meisten?

Die Vielseitigkeit, den Gestaltungsfreiraum und Platz für Kreativität in Forschung und Lehre, die Zusammenarbeit mit Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten.

 

Als sehr bereichernd empfinde ich die Arbeit mit internationalen Studierenden. Durch interaktive Lehr- und Lernformate, Reflexion und persönlichen Austausch lernen wir mit- und voneinander, denn alle bringen Erfahrungen aus verschiedenen Wissenssystemen mit. Für mich ist jede Lehrveranstaltung wie eine neue gemeinsame Reise und Inspiration – es kommt spürbar etwas in Gang, denn die Themen betreffen und berühren uns alle persönlich und werden nicht nur auf einer abstrakten Ebene abgehandelt. Wenn Studierende dann länger am Institut bleiben – als studentische Mitarbeitende, und/oder für ihre Master- oder Doktorarbeit – können wir uns besser kennenlernen und intensiver in Forschung und Lehre zusammenarbeiten.

 

Sehr erfüllend ist auch die Arbeit in internationalen transdisziplinären Forschungsteams. Mit partizipativer Aktionsforschung setzen wir bei bestehenden Initiativen zivilgesellschaftlicher Organisationen vor Ort an und entwickeln Forschungsfragen gemeinsam mit den Beteiligten. Die Ergebnisse dienen nicht nur der Forschung, sondern sind ebenso wichtig als Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs und in manchen Kontexten für die politische Mobilisierung. Ich versuche inzwischen, häufige Flugreisen zu vermeiden, auch aus Gründen des Klimaschutzes. In der Regel bin ich einmal pro Jahr in ein bis zwei Projektregionen. Der intensive Austausch vor Ort ermöglicht mir, nah am Thema zu bleiben und nicht den Kontakt zu verlieren, und dabei immer wieder kritisch zu hinterfragen, warum und für welches Ziel wir uns in der Forschung engagieren. Die Erfahrungen fließen dann direkt in die forschungsgeleitete Lehre ein. So bleibt es stets ein dynamischer Prozess.

Die wichtigste Grundlage für alle anderen Aktivitäten ist für mich eine gute Zusammenarbeit innerhalb unseres Teams am Institut und in unterschiedlichen Gremien der BOKU – Beispiele sind die interdisziplinäre Doctoral School „Transitions to Sustainability“, in der wir fächerübergreifend zusammenarbeiten und uns einmal im Jahr auf einem Retreat intensiv austauschen; die Ethikkommission, in der wir ebenfalls als interdisziplinäres Team Anträge vor Beginn der Forschung begutachten und Empfehlungen zu ethischen Aspekten geben; in der Steuerungsgruppe Diversitätsstrategie, ein Thema, das an der BOKU eine zentrale Rolle einnimmt; und in Arbeitsgruppen zur Entwicklung neuer Studiengänge. Im vergangenen Jahr haben wir instituts- und departmentübergreifend den neuen inter- und transdisziplinären Masterstudiengang „Climate Change and Societal Transformation“ mitentwickelt, der im Wintersemester 2023/2024 mit großem Erfolg angelaufen ist – das war und ist ein sehr inspirierender und spannender Prozess.

Paneldiskussion, Featuring the Future Conference, BOKU University, 22.07.2024 © Krisztian Juhasz

Was würden Sie Studierenden Ihres Fachbereiches gerne als Tipp mit auf den Weg geben?

Sich engagieren – Verbündete und Gleichgesinnte finden. Es gibt viele Möglichkeiten, sich aktiv einzubringen, sowohl an den Universitäten als auch in Organisationen der Zivilgesellschaft, oft auch in transdisziplinären Kooperationen.

 

Zuversichtlich bleiben – trotz der teils überwältigenden Herausforderungen und aktuellen Krisen, wie Klimakrise, soziale Konflikte und strukturelle Ungleichheit, Vertreibung, gewaltsame Konflikte, gender-basierte Diskriminierung und Gewalt u.v.m. Es gibt ebenso die vielen inspirierenden Initiativen und Menschen, die zusammenhelfen – das nehmen wir bei der überwiegend negativ geprägten Berichterstattung oft nicht mehr ausreichend wahr. So wichtig alle diese Themen sind: ebenso wichtig ist es, sorgsam mit uns selbst und den eigenen Ressourcen umzugehen und nicht auszubrennen. Wir sehen vermehrt bei Studierenden, dass angesichts der multiplen Krisen Zukunftsängste zunehmen. Aber auch wir als Forschende und Lehrende müssen bewusst und ehrlich damit umgehen, zum Beispiel indem wir diese Themen mit den Studierenden und untereinander aktiv ansprechen und uns, wo nötig, Unterstützung von außen holen, von Beratungskräften, die wissen, wie wir damit umgehen können.

 

Sich die Fähigkeit zur kritischen Reflexion aneignen und erhalten. Wir müssen Schwarz-weiß-Denken und Radikalisierung mit Differenziertheit, Besonnenheit und Klarheit entgegentreten – auch hierfür braucht es Verbündete und starken Zusammenhalt.

3
0

Verfasser*in: Univ.-Prof. Dr. Stefanie Lemke

Univ.-Prof. Dr. Stefanie Lemke hat seit 2021 die Professur Entwicklungsforschung an der Universität für Bodenkultur Wien inne. Thematische Schwerpunkte sind das Menschenrecht auf angemessene Nahrung und Ernährung, Ernährungssouveränität, nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme und Governance natürlicher Ressourcen, unter Anwendung partizipativer, transdisziplinärer, gendertransformativer und intersektionaler Ansätze. Partizipative Aktionsforschung u.a. zum Recht von Frauen auf Land und struktureller Benachteiligung in Ost- und Westafrika sowie zu Innovationen von Frauen in der Landwirtschaft und ländlichen Regionen in Mittel- und Osteuropa.