Hauswirtschaft als Brücke zwischen SAHGE und MINT

Hauswirtschaft als Brücke zwischen SAHGE und MINT
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Wer sich aktuell über Berufe informieren möchte, findet bei der Bundesagentur für Arbeit umfangreiche Informationen. Um die Suche zu erleichtern, werden die Berufe unter anderem nach Themen sortiert. Dabei finden sich auch Begriffe wie SAHGE und MINT. (siehe: https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/) SAHGE steht dabei für Soziale Arbeit, Hauswirtschaft / haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Erziehung, MINT steht für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. 

Der Begriff MINT hat sich vor knapp 20 Jahren etabliert, nachdem auf der Kultusministerkonferenz im April 2005 die Förderung der MINT-Fächer in den Fokus genommen wurde. Anlass war der zunehmende Fachkräftemangel in den ingenieurwissenschaftlichen und technischen Berufen, dem unter anderem mit der nationalen Initiative „MINT Zukunft schaffen!“ begegnet werden sollte, die 2008 ins Leben gerufen wurde. (siehe: https://mintzukunftschaffen.de/) Seit dieser Zeit haben sich die unterschiedlichsten Formate etabliert, die auf allen Bildungsebenen für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik interessieren und bestenfalls begeistern wollen. (Eine gute Übersicht dazu liefert unter anderem: https://www.mint-vernetzt.de/) Die Angebote orientieren sich überwiegend an klassischen MINT-Themen, wie z.B. Programmieren, Robotik, Elektronik und Bearbeitung von Metall oder Holz, womit sie damit die üblichen Klischees erfüllen und verstärken, die mit diesen Berufen verbunden sind.

Einerseits ist das so gewünscht, denn die Formate sprechen damit sehr spezifisch die gewünschte Zielgruppe an, andererseits schreckt das auch viele Menschen ab, die vielleicht grundsätzlich ein Talent für MINT haben, aber mit den behandelten Themen und der Nerd-Bubble nicht viel anfangen können.

Die starke Betonung von MINT durch Wirtschaft und Politik ist aus heutiger Perspektive gleich aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen muss festgestellt werden, dass sich die in diese Initiativen gestellten großen Hoffnungen nicht erfüllt haben, denn trotz des geleisteten Aufwands geht die Kompetenz in Mathematik und in den Naturwissenschaften seit Jahren spürbar zurück. (siehe: https://www.acatech.de/publikation/mint-nachwuchsbarometer-2024/) Das macht sich in der gesamten Aus- und Weiterbildungslandschaft inzwischen deutlich bemerkbar, sowohl in den Ausbildungsberufen als auch in der akademischen Ausbildung. Zum anderen führt die Betonung von MINT zu einer fatalen Bildungspolarisierung, die erst ganz unscheinbar anfing, mit der Einführung des Begriffs SAHGE dann aber ein fundamentales Missverständnis zementiert hat. 

Der Begriff SAHGE (zuerst nur SAGE) entstand als Gegenpol zu MINT im Kontext der Diskussion um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Anerkennung von Berufen in den Bereichen Soziale Arbeit, Hauswirtschaft/haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Erziehung. In den 2010er Jahren gewannen die Initiativen zur Aufwertung dieser Berufe immer mehr an Bedeutung, als gesellschaftspolitische Diskussionen die schlechtere Bezahlung und die anspruchsvollen Ausbildungsbedingungen dieser Berufe ins Zentrum rückten. Das Ziel ist, die Relevanz und die Herausforderungen in diesen Berufsfeldern zu verdeutlichen und eine stärkere Professionalisierung zu fördern. (siehe: https://www.dghev.de/fileadmin/user_upload/News/21-10-29Arbeitspapier_SAHGE.pdf 

Damit haben die SAHGE-Initiativen zwar grundsätzlich ähnliche Ziele, wie die MINT-Initiativen, nämlich unter anderem für ihre beruflichen Themenfelder zu interessieren und dazu beizutragen, sie cool erscheinen zu lassen, sie bedienen aber häufig, ebenso wie die MINT-Initiativen, ihre eigenen klassischen Klischees und haben damit in der Ansprache der Zielgruppen die gleichen Beschränkungen, wie sie schon weiter oben bei den MINT-Initiativen erwähnt wurden. Hinzu kommt erschwerend, dass die SAHGE-Berufe nicht den Rückhalt in Politik und Wirtschaft haben, wie die MINT-Berufe, sodass die Wahrnehmung und leider auch die Wertschätzung in der Gesellschaft deutlich geringer sind. Nur während der Corona-Pandemie rückten die SAHGE-Berufe kurz ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. 

Das oben angesprochene Missverständnis kommt durch die Entstehung und die Bedeutung der Begriffe MINT und SAHGE als Gegenpole fast zwangsläufig zustande. So wird zum Beispiel durch die Wahl der beruflichen Themenfelder suggeriert, dass SAHGE-Berufe nichts oder zumindest sehr wenig mit MINT zu tun haben, während in MINT-Berufen soziale Aspekte keine Rolle zu spielen scheinen. Beim aufmerksamen Durchblättern der angebotenen SAHGE-Berufe auf der Seite der Bundesanstalt für Arbeit zeigt sich aber, dass die Annahme, SAHGE-Berufe kämen ohne MINT aus, tatsächlich jeglicher Grundlage entbehrt. Und natürlich wird auch in vielen naturwissenschaftlich/technischen Berufen mit Menschen gearbeitet, es spielen also soziale Aspekte sehr wohl eine Rolle. Wie wichtig soziale Kompetenz auch in MINT ist, zeigt sich ganz deutlich zum Beispiel bei Lehrkräften, die MINT-Fächer unterrichten. 

Ein anderes Beispiel dafür, wie problematisch die Einteilung ist, ist die Haushaltswissenschaft, bzw. in der praktischen Umsetzung die Hauswirtschaft, die aktuell den SAHGE-Berufen zugeordnet wird. Hauswirtschaftliches Handeln ist zweifellos für die Versorgung von Menschen von fundamentaler Bedeutung, sie trägt mit gesundheitsfördernder Ernährung und angemessener Hygiene zur allgemeinen Gesundheit bei und übernimmt wichtige Aufgaben bei der Kindererziehung. Alles Themen, die scheinbar nichts oder nur sehr wenig mit MINT zu tun haben. Schaut man sich einen Haushalt an, wobei es hier keine Rolle spielt, ob es sich um einen Privat- oder Großhaushalt handelt, wird aber schnell klar, dass zur Erfüllung all dieser Aufgaben tatsächlich umfangreiche MINT-Kenntnisse nötig sind.

Das beginnt mit Grundkenntnissen in der Mathematik, die nicht nur dafür benötigt werden, die eigenen Finanzen im Blick zu behalten, sondern auch dafür, um Rezepte zu skalieren und entsprechend einzukaufen, weil Gäste kommen oder im Rahmen einer Renovierung zu klären, wie viel Tapeten gekauft werden müssen. Die Allgegenwärtigkeit des Internets und der immer stärkere Einzug digitaler Technologien in die Haushalte zum Beispiel durch Smart-Home-Lösungen, aber auch die zunehmende Cyberkriminalität erfordert ein Grundverständnis von Informationstechnik und Cybersicherheit.

Die Auswahl, Lagerung, Zubereitung und Entsorgung von Lebensmitteln sind angewandte Biologie, Physiologie, Physik und Chemie und der Einsatz komplexer Technologie. Die Haushaltsgeräte sollten umsichtig genutzt werden, um einerseits die Verletzungsgefahr zu reduzieren und andererseits die benötigte Energie so effizient wie möglich zu nutzen. Auch der Bereich (Ab-)Waschen und Reinigen setzt ein Grundverständnis in Chemie und Physik voraus, insbesondere dann, wenn die Prozesse so ressourcenschonend und nachhaltig wie möglich sein sollen. Wie wichtig das ist, kann unter anderem an vermeintlich ökologischen und nachhaltigen Haushaltsmitteln gesehen werden, die massenhaft in den sozialen Medien propagiert werden und die tatsächlich in den meisten Fällen nichts anderes als eine wirkungslose Verschwendung von Lebensmitteln sind. 

Hauswirtschaft hat also wesentliche Aspekte sowohl aus SAHGE als auch MINT. Die Zuordnung der Hauswirtschaft in einen einzigen Bereich macht daher keinen Sinn. Dieser Umstand trifft für fast alle SAHGE-Berufe zu, denn die Grundrechenarten, Dreisatz, Prozent- und Zinsrechnung werden fast überall gebraucht, ebenso sind der tägliche Einsatz von Software und Technologie in so gut wie allen Lebensumständen selbstverständlich. Wer sich also für SAHGE-Berufe entscheidet, weil dort vermeintlich kein MINT vorkommt, sich deshalb vielleicht sogar schon in der Schule bewusst in den MINT-Fächern zurückhält, wird später ziemlich sicher eine Enttäuschung erleben.

Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass die Betonung von MINT in den 2000er Jahren ebenso wenig die Erwartungen erfüllt hat, wie die Initiativen in den SAHGE-Berufen ab den 2010er Jahren. Darüber hinaus wird durch die Konstellation der Themen als Gegenpole eine Wahlmöglichkeit, oder genauer eine Abwahlmöglichkeit z.B. von Mathematik suggeriert, die nicht der beruflichen Praxis entspricht. Und schließlich werden durch die Pflege der fachspezifischen Klischees nur die eigenen Blasen angesprochen, was einen fachübergreifenden Austausch erschwert. 

Es wäre daher nur konsequent, den Begriff SAHGE in dieser Form komplett einzustampfen und die Bedeutung von MINT deutlich zu erweitern. Gerade die Haushaltswissenschaft bietet hier ein riesiges bisher kaum beachtetes Feld für die Erweiterung von MINT-Angeboten. Dazu nur ein paar Stichworte: Biologie von Lebensmitteln (was essen wir eigentlich und warum) und Schädlingen, Chemie von Wasch- und Reinigungsmitteln, chemische Vorgänge beim Garen und beim Verderb, physikalische Vorgänge beim Backen und Garen, Energieverbrauch, Beleuchtung, Smart-Home-Anwendungen, etc. Diese Themen wären sehr nah an der Erlebniswelt vieler Menschen und könnten damit vielleicht auch Personen ansprechen, deren Zugang zu MINT nicht über die klassischen Wege erfolgt. Und schließlich könnte auf diese Weise auch deutlich gemacht werden, wie anspruchsvoll und komplex das Führen eines Haushaltes ist.  

Das alles soll ausdrücklich nicht auf Kosten der sozialen Aspekte in der Hauswirtschaft gehen, nur um das nochmal zu betonen. Es geht ja gerade darum, die scheinbaren Gegensätze von SAHGE und MINT zu überwinden. Diese Idee wird nicht alle Menschen erfreuen. Gerade in der haushaltswissenschaftlichen Community wird die Aufnahme der Hauswirtschaft in den SAHGE-Bereich als großer Erfolg verbucht. Aber vielleicht trägt genau diese Einteilung auch dazu bei, dass die Hauswirtschaft nicht so ernst genommen und nicht als so cool angesehen wird, wie sie das eigentlich verdient hat. 

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Verfasser*in: Prof. Dr. Sascha Skorupka

Prof. Dr. Sascha Skorupka ist Physiker und im Fachbereich Oecotrophologie an der Hochschule Fulda unter anderem für die Hausgerätetechnik zuständig. Er ist wissenschaftlicher Leiter vom MINTmachClub Fulda und engagiert sich im Forum Waschen und im Vorstand der dgh.