Ernährung hat nicht nur einen großen Einfluss auf die individuelle Gesundheit, sondern auch auf das Klima. So werden entlang der Wertschöpfungskette – Produktion, Lagerung, Zubereitung, Entsorgung – Treibhausgase verursacht, welche negative Auswirkungen auf unser Klima haben. Allein in Deutschland sind rund 21 % der verursachten Treibhausgasemissionen auf die Ernährung zurückzuführen (WWF Deutschland 2012).
Gleichzeitig sind immer mehr Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Im Jahr 2021 betraf dies etwa jede fünfte Person (Statista 2022). Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und steigende Lebensmittelpreise führen dazu, dass die Anzahl von (Ernährungs-)Armut betroffener Menschen weiter steigt (Beermann & Grahl, 2021; Tafel Deutschland, 2019). Gerade die aktuellen Krisen, wie der Krieg in der Ukraine, verschärfen die Situation zusätzlich. Hinzu kommt, dass die begrenzten (finanziellen) Ressourcen wiederum die Umsetzung einer gesundheitsförderlichen und klimafreundlichen Ernährung im Alltag erschweren.
Daran knüpft das IN FORM-Projekt KlimaFood (Laufzeit: 11/2020-12/2023) unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Johannsen der Abteilung Ernährung und Verbraucherbildung an der Europa-Universität Flensburg an. Das Projektteam hat sich zum Ziel gesetzt, eine gesundheitsfördernde und klimafreundliche Ernährungsbildung für jede/n zugänglich zu machen, alltagspraktisch zu vermitteln und dabei besonders jene Menschen zu adressieren, die von Ernährungsbildungsangeboten noch zu wenig erreicht werden. Dazu zählen unter anderem Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Familien, Personen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status und Menschen mit Grundbildungsbedarf, Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte. Unterstützt wird das Projekt durch die Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Schleswig-Holstein e. V., der Tafel-Akademie gGmbH und Equippers e. V.
Unter Einbezug diverser Fachliteratur (u. a. Ziele einer nachhaltigen Ernährung des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz, Forschungsergebnisse der EAT-Lancet Commission zur Planetary Health Diet, Vollwert-Ernährung nach Koerber et al., 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung) wurden sieben Themenbereiche identifiziert, um eine Schwerpunktsetzung je nach Bedarf und Zielgruppe zu ermöglichen:
Zur Vermittlung der sieben Themenschwerpunkte wurden partizipativ alltagspraktische Ansätze und Konzepte entwickelt und zunächst in der Modellregion Schleswig-Holstein gemeinsam mit Institutionen aus der Praxis erprobt. Um den Zugang zum Thema möglichst niederschwellig zu gestalten, werden die Angebote in die Lebenswelten der Menschen integriert. Es wird dort angesetzt, wo die Zielgruppen in ihrem Alltag anzutreffen sind, z. B. im Jugendzentrum, vor der Tafel-Ausgabe oder im Sprachkurs.
Dazu wurden drei unterschiedliche Zugangswege genutzt: Die Implementation von Inhalten in bestehende Strukturen, aufsuchende Ernährungsbildung sowie Service-Learning- und Peer-Education-Ansätze.
Implementation von Inhalten in bestehende Strukturen
Bei diesem Zugangsweg handelt es sich um die Verankerung von Inhalten einer klimafreundlichen und gesundheitsfördernden Ernährungsbildung in bereits bestehende Strukturen oder Kursangebote, wie bspw. Sprachkurse in Familienzentren oder Volkshochschulen. Angesprochen werden dabei vor allem Menschen mit Grundbildungsbedarf sowie Menschen mit Einwanderungs- und/oder Fluchtgeschichte, die über geringe Deutsch-Sprach- oder Schriftkenntnisse verfügen. Ein konkretes Beispiel dafür ist das Konzept „Lecker Deutsch“, welches das Deutsch lernen und das Thema Ernährung miteinander verknüpft. Gemeinsam wird im Rahmen eines Sprach- oder Alphabetisierungskurses anhand eines Foto-Rezepts saisonal gekocht. Diese gemeinsame Aktivität dient als Grundlage, um sich damit zu beschäftigen, wo unsere Lebensmittel herkommen und wann sie saisonal verfügbar sind. Ziel ist eine Sensibilisierung der Teilnehmenden für eine saisonale und regionale Ernährung und angrenzende Themen wie die Transportwege von Lebensmitteln. Ebenso stehen der Wortschatzaufbau und die gemeinsame Interaktion in der Gruppe im Fokus. Entwickelt wurden vier Foto-Rezepte zu der jeweiligen Saison mit ergänzenden Materialien zum Wortschatzaufbau und zur inhaltlichen Vertiefung der Themen „Saisonalität und Regionalität von Lebensmitteln“.
Aufsuchende Ernährungsbildung
Dieser Zugangsweg erreicht die Zielgruppen direkt in ihren Lebensräumen. Das Aufsuchen findet beispielsweise im Quartier auf öffentlichen Plätzen, vor der Kita oder der Tafelausgabe, im Jugendzentrum oder bei Straßenfesten statt. So können auch eher bildungsbenachteiligte Menschen, welche keine festen Bildungsstrukturen besuchen, von Angeboten der Ernährungsbildung profitieren. Als Konzept hat sich die „Mitmach-Küche“ bewährt. Dabei werden Teilnehmende dazu eingeladen, an einer mobilen Küche selbstständig mit Lebensmitteln zu arbeiten oder ein komplettes Gericht zuzubereiten. Das Konzept zielt darauf ab, zur Zubereitung (möglicherweise) unbekannter oder unbeliebter Lebensmittel zu inspirieren und leichte, alltagspraktische Rezepte zu vermitteln. Teilnehmende erfahren dabei neue Geschmackserlebnisse und überwinden so möglicherweise Hemmschwellen vor den unbeliebteren oder unbekannten Lebensmitteln. In den Tafeln können den Kund*innen auf diese Weise „Ladenhüter“ schmackhaft gemacht werden. So trägt das Konzept zur weiteren Reduktion der Lebensmittelverschwendung bei und ermöglicht den Tafel-Kund*innen Zuhause ein zusätzliches kostengünstiges, klimafreundliches und gesundheitsförderliches Gericht nachzukochen. Bei der Vermittlung von Wissen und küchenpraktischen Fertigkeiten wird sich an den teilnehmenden Personen orientiert. So kann das individuelle Knowhow der Teilnehmenden als Expertenwissen die komplette Gruppe bereichern oder einzelne Personen bekommen kleinschrittig Fähigkeiten vermittelt. Zur Niedrigschwelligkeit des Konzeptes trägt bei, dass keine Anmeldung nötig ist und Interessierte vor Ort entscheiden können, ob sie teilnehmen möchten.
Service-Learning- und Peer-Education-Ansätze
Der Ansatz „Lernen durch Anleiten“ vereint Service-Learning- und Peer-Education-Ansätze: Personen aus der Zielgruppe (hier Kinder und Jugendliche) wird die Rolle der Anleitenden übertragen. Im Rahmen von Ernährungsbildungsaktionen vermitteln sie ihren Peers oder anderen Personen aus ihrem Umfeld Inhalte einer nachhaltigen Ernährung und küchenpraktische Fertigkeiten. Ein konkretes Beispiel ist die Aktion „Lebensmittelrettung“, die mit einer Jugendgruppe entwickelt und erprobt wurde. Die anleitenden Jugendlichen informierten sich über das Thema Lebensmittelverschwendung, planten die Aktion, retteten Lebensmittel von einem nahegelegenen Supermarkt und wählten Rezepte für ihre Verwertung aus. Während der Aktion leiteten sie ihre Peers beim Kochen an und gaben ihr Wissen in einem kurzen Impuls weiter. Die Einarbeitung in das jeweilige Thema und die Vorbereitung der Aktion bietet Chancen auf einen großen Kompetenzzuwachs seitens der Anleitenden. Durch den Prozess können sie in ihrer Selbstwirksamkeit gestärkt und motiviert werden, sich weiter mit der Thematik zu beschäftigen.
Ausblick
Derzeit befinden sich die Projektansätze im bundesweiten Transfer. Dafür werden Modellstandorte errichtet (Kreise, Städte, Quartiere, Einrichtungen, o. ä.) in welchen die Ansätze des Projektes langfristig in die bestehenden Strukturen integriert werden. Die Modellstandorte bieten Beispiele, die andere Regionen und Institutionen inspirieren und zum Handeln aktivieren sollen. Zum anderen erfolgt der Transfer über Schulungen zu den drei verschiedenen Zugangswegen. Die qualifizierten Multiplikator*innen übertragen die Ernährungsbildungsangebote im Anschluss selbstständig in die Lebenswelten ihrer jeweiligen Zielgruppen. Auf diese Weise beteiligen sie sich aktiv an der Verstetigung der Projektinhalte. Ergänzende Handreichungen sowie Materialsammlungen unterstützen die Arbeit im Feld und werden im Verlauf des Jahres der Öffentlichkeit bereitgestellt. Den Auftakt dazu gibt die KlimaFood-Tagung in Flensburg am 14.09.2023.
Weiterführende Links:
Weiterführende Links:
Beermann, A.-C. & Grahl, V. (2021, Dezember): Ernährungsarmut in Zahlen (Policy Brief, Teil 2). Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft. https://foes.de/publikationen/2021/2021-12_FOES_Ernaehrungsarmut_Teil_2.pdf (Zugriff am 15.02.2023).
Lüder, V.; Lütjen, K.; Johannsen, U. (2022): Klimafreundliche Ernährungsbildung – kompetenzorientierte Ansätze, Methoden und Herausforderungen im Kontext lebenslangen Lernens. HiBiFo – Haushalt in Bildung & Forschung, 11(4), 40-56. https://doi.org/10.3224/hibifo.v11i4.04
Statista (2022): Statistiken zur Armut in Deutschland. Verfügbar unter: https://de.statista.com/themen/120/armut-in-deutschland/#topicOverview (Zugriff am 15.02.2023).
Tafel Deutschland e. V. (Hrsg.) (2019): Kundinnen und Kunden. Verfügbar unter: https://www.tafel.de/fileadmin/media/Presse/Hintergrundinformationen/2019-11-05_Faktenblaetter_gesamt.pdf (Zugriff am 15.02.2023).
WBAE (Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen
Verbraucherschutz beim BMEL) (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine
integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten – Kurzfassung des Gutachtens. Verfügbar unter:
https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-
gutachten-nachhaltige-ernaehrung-kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=2
(Zugriff am 06.07.2022).
WWF Deutschland (Hrsg.) (2012): Klimawandel auf dem Teller. Verfügbar unter:
https://www.wwf.de/fileadmin/user_upload/Klimawandel_auf_dem_Teller.pdf (Zugriff am 04.07.2022).
M. Sc. Vanessa Lüder hat an der Hochschule Osnabrück Ökotrophologie (B. Sc.) und an der Fachhochschule Münster Nachhaltige Dienstleistungs- und Ernährungswirtschaft (M. Sc.) studiert.
Ihre Kollegin M. Sc. Lisa Rück studierte an der Europa-Universität Flensburg Bildungswissenschaften (B. A.) und an der Hochschule Fulda Public Health Nutrition (M. Sc.).
Nun hat es sie beide in den hohen Norden an die Europa-Universität Flensburg verschlagen. Sie arbeiten im Projekt KlimaFood und beschäftigen sich damit, wie vulnerable Gruppen in ihren Lebenswelten mit klimafreundlicher und gesundheitsfördernder Ernährungsbildung erreicht werden können.